Der Altarraum in Nordend

Am Sonntag, 26. April 2015, Jubilate, stellte Prof. D. Dr. Krötke den Altaurraum in den Mittelpunkt seiner Predigt. Grundlage für die Predigt waren die Verse 1 bis 5 aus dem 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums.

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Johannes 15, 1-5

Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, dass ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt.

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Liebe Gemeinde,

der Predigttext des heutigen Sonntags ist der Anlass, dass wir uns das Altarbild aus dem Großen Kirchsaal hier im Kleinen Kirchsaal vor Augen führen. Wir blicken während der Sommerzeit und an festlichen Tagen im Winter ja immer darauf. Jesus Christus schreitet durch einen Bogen von herbstlichem Weinlaub, an dem reife, dunkle Weintrauben hängen, gewissermaßen in unsere Gemeinde hinein. Wo er kommt, gedeiht dieser Wein offensichtlich.

Allen, welche das Johannesevangelium kennen, fällt beim Anblick der reifen Reben, die um Jesus herum gedeihen, fast von alleine unser heutiger Predigttext ein. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“, sagt Jesus da. Er sagt es in den sogenannten „Abschiedsreden“ angesichts dessen, dass ihm der Tod bevor steht.

Doch dieser Tod – so will er seinen Jüngern versichern – wird nicht das Ende des Geistes sein, der von ihm ausgeht. „Aus mir“, versichert er ihnen, „bezieht ihr wie die Reben an einem Weinstock, auch dann Saft und Kraft für ein Leben aus meinem Geist, wenn ich nicht mehr bei euch auf der Erde bin. Ich bin mitten unter euch mit meinem Geiste und mit meinen Worten. Ihr seid in mir, wenn dieser Geist und diese Worte euer Lebenselexier sind“.

Unserem Altarbild, von dem wir nicht genau wissen, wer es vor über 100 Jahren auf den Putz unseres Kirchsaals gemalt hat, waren bei der bildlichen Darstellung dieser Botschaft natürlich Grenzen gesetzt. Das Thema „Wein“, das mit dem Weinlaub und den Reben angeschlagen wird, ruft uns aber zweifellos auf, das Bild wie eine gemalte Predigt von Johannes 15 zu verstehen. Er, Jesus Christus, ist der Grund, warum der Wein rings um ihn her, sprich: warum seine Gemeinde gedeiht wie Reben an einem Weinstock.

Indem wir Sonntag für Sonntag auf diese gemalte Predigt  blicken, ist das Evangelium von heute gewissermaßen der Haus- oder Zentraltext der Nordendgemeinde. Wer zu ihr gehört, weiß aus dem sonntäglichem Blick auf dieses Bild: Wir sind die Reben, die aus dem Geiste und den Worten dessen gedeihen, der da mitten uns hinein schreitet. Wir dürften darum eigentlich gar nicht bloß nüchtern „Nordendgemeinde“ heißen. Das gemalte Evangelium vom Sonntag „Jubilate“ über unserem Altar qualifiziert uns vielmehr als „Jubilate-Gemeinde“

Aber erreicht uns die gemalte Predigt unseres Altarbildes auch wirklich? Kunstexperten haben hier einige Verwirrung gestiftet. Sie hatten den Einfall, dieses Bild stelle Jesus als „Weingärtner“ dar. Anlass dazu waren vielleicht die etwas plumpen Straßen- oder Arbeitsschuhe, mit denen Jesus Christus hier dargestellt wird.

Doch die Bezeichnung Jesu als „Weingärtner“ ist unbiblisch und als Titel für unser Altarbild regelrecht falsch. Sie haben es, liebe Gemeinde, bei der Verlesung des Evangeliums sicherlich auch bemerkt. Jesus sagt dort: „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner“.

Das heißt: Er, Gott der Vater Jesu Christi, hat die Schere in der Hand, mit der ein Weingärtner überflüssige Triebe abschneidet und nicht gedeihende Reben wegnimmt. Davon ist auf unserem Bilde nichts zu sehen. Indem Jesus Gott, den Vater, den „Weingärtner“ nennt, will er sagen, dass all unser Tun und Lassen aus seinem Geist und seinen Worten dem Urteil Gottes ausgesetzt bleiben. Er wird entscheiden, ob wir gute oder faule Früchte am Weinstock waren.

Jesus Christus aber ist nur für das Gedeihen zuständig, für das Wachsen und Gedeihen der Reben. Auf dem Altarbild fehlen deshalb bei Christus alle Merkmale eines Weingärtners mit der Schere, geschweige denn mit der Arbeitskluft eines Weinbauern, wie der Weingärtner im Evangelium wörtlich übersetzt heißt. Kurz und gut: Die Bezeichnung Jesu auf unserem Altarbild als „Weingärtner“ können wir vergessen.

Wie aber sollen wir dieses Bild dann nennen? Auf die Spur hilft uns einerseits der Jubiläumsband zum 100-jährigen Bestehen der unserer Gemeinde. Aus dem Archiv wurde ermittelt, dass das Altarbild eigentlich den Jesus darstellen sollte, der die Kinder segnet.

Der Entwurf dafür verdankt sich dem Plan, neben dem Kirchsaal einen „Spielsaal“ für Kinder einzurichten. Doch dieser Entwurf ist nicht ausgeführt worden. Man kann vermuten, dass dabei die Überlegung eine Rolle gespielt hat, Jesus habe ja nicht nur die Kinder, sondern alle Menschen gesegnet, die sich im Kirchsaal versammeln. Vermutlich hat das Thema „Segen“ darum die Suche nach einem passenden Altarbild für alle bestimmt.

Darauf weisen andererseits drei Besonderheiten der Darstellung Jesu Christi auf unserem Bild hin.

Er trägt einen Heiligenschein, eine sogenannte Gloriole, die ihn als Auferstandenen in göttlichem Glanze kennzeichnet. Er segnet mit der rechten Hand und er hat in der linken Hand eine Bibel. Diese Dreiheit von Gloriole, segnender Hand und Bibel aber ist ein uraltes Charakteristikum der Darstellung des triumphierenden oder thronenden Christus, der segnet.

Wir finden diese Dreiheit zum Beispiel auf einem Bild in der Haggia Sophia in Byzanz. Dort ist der triumphierende Christus mit Kaiser Konstantin zu seiner Rechten und dessen Frau zu seiner Linken dargestellt. Zwar fehlt auf unserem Altarbild die Dreiteilung des Heiligenscheins, die auf Vater, Sohn und Geist hinweist. Die Gloriole besteht nur aus einem Strahlenkranz. Und auch die Segensgeste ist anders. Jesus segnet, indem er mit dem Ringfinger den Daumen berührt und Zeige- sowie Mittelfinder empor reckt. Damit sollten die Anfangsbuchstaben des Namens „Jesus Christus“ in antiker griechischer Schrift nachgeahmt werden. Das berührt uns heute fremd. Doch die Anlehnung unseres Bildes an diese uralte Symbolik im Ganzen ist unverkennbar.

Selbst Besonderheiten der Bibel, die Christus in der Hand hält, sind auf unserem Altarbild angedeutet.

An den vier Ecken sind die vier Evangelisten dargestellt. Die Mitte des Buchdeckels, die auf jenem uralten Bild von Byzanz ein Kreuz bildet, ist dann im Laufe der Jahrhunderte mannigfach verändert worden. Unser Altarbildner hatte vermutlich eine Bibel aus dem 19. Jahrhundert mit einem Medaillon des auferstandenen Christus in der Mitte vor Augen.

Aber er hatte sicherlich nicht den triumphierenden Christus im Bunde mit Kaiser Konstantin und seinen Söldner-Armeen im Sinn. Denn zu Jesus Christus auf unserem Bild, der da inmitten von reifendem Wein auf uns zuschreitet, passt nichts weltlich Großartiges oder gar Gewalttätiges. Er gleicht vielmehr dem segnenden Christus, in welchen sich der triumphierende Christus besonders in der orthodox-östlichen Ikonenmalerei nach und nach gewandelt hat.

Eine Ikone, ein Bild, in dem der Geist Jesu Christi geheimnisvoll verborgen ist, so dass von ihm Segenskräfte ausgehen, ist unser Altarbild trotz seiner Verwandtschaft mit den Ikonen der östlichen Christenheit dennoch nicht. Es ist vielmehr anzunehmen, dass das Motiv vom triumphierenden und segnenden Christus bei ihm aus der Tradition der abendländischen Christenheit stammt.

Darauf weist die segnende rechte Hand Jesu Christi hin, wie wir sie z.B. in einer Bibel aus der Zeit Karls des Großen im 9. Jahrhundert oder auf den sog. Gustorfer Schranken aus dem 12. Jahrhundert antreffen.

Christus segnet hier (wie auf unserem Altarbild), indem er Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger hoch streckt und den Ring- und Zeigefinger beugt. Die drei gestreckten Finger sollen die Dreieinigkeit Gottes symbolisieren und die zwei gebeugten die göttliche und die menschliche Natur Jesu Christi.

Mit dieser Segensgeste ist Christus dann in der religiösen Kunst des Mittelalters bis in unsere Zeit hinein in unendlich vielen Variationen dargestellt worden. Da ist schon im 15. Jahrhundert auf der einen Seite der triumphierende Christus mit dem Zepter in der linken Hand. Und da ist fast zu der gleichen Zeit der segnende Christus in ganz menschlicher Gestalt.

Die Tendenz dazu, den segnenden Christus sozusagen menschlicher und ohne Heiligenschein, ja sogar mit Dornenkrone darzustellen, wird dieser Zeit ganz stark.

Wir können nun, liebe Gemeinde, ganz sicher annehmen, dass dem Schöpfer unseres Altarbildes auch die Bilder dieses sehr menschlichen Jesus vor Augen gestanden haben, als er unser Bild mit dem Heiligenschein schuf. Darauf weist nicht nur die erste Skizze hin, aus der er offenkundig die Gestaltung des Gewandes Jesu Christi übernommen hat.

Es gibt darüber hinaus ein Bild des segnenden Christus von Giovanni Battista Cima von 1506, wo Jesus genau dieses Gewand trägt: Ein langes Hemd, über das eine Art Toga geworfen ist. Von diesem Bild existiert auch ein Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert, den Jakob Folkema geschaffen hat.

Es befindet sich in der Gemäldegalerie in Dresden und wird wie vor 100 Jahren bis heute Kunstfreundinnen und Kunstfreunden als Druck angeboten.

Können wir annehmen, dass unser Altarbild des segnenden Christus von solch einem Druck inspiriert ist? Die Ähnlichkeit beider Darstellungen des segnenden Christus ist jedenfalls im Ganzen unverkennbar.

Nur das blonde etwas lockige Haar und der Seitenscheitel – umgeben von der Gloriole – zeigen, dass hier die Tradition der Ikonenenmalerei auch mit im Spiele ist.

Der von einem oberrheinischen Meister im Jahre 1240 auf Glas gemalte „Thronende Christus“ hat z.B. blonde, gelockte Haare. Doch ihm hat unser Künstler im Nordend die Augen des segnenden Jesus gegeben.

Das Besondere unseres Altarbildes und damit das Besondere seiner gemalten Predigt ist demnach ziemlich klar. Es verschränkt das Bild vom triumphierenden, hoch über uns thronenden Christus mit dem segnenden Jesus, der als Mensch wie wir mitten unter uns das Evangelium von der Menschenliebe Gottes ausbreitet. Es bringt den thronenden Christus gewissermaßen zum Laufen zu uns.

Und das dürfte dann auch der Schlüssel zum Verständnis der höchst banalen Schuhe sein, die dieser Jesus Christus anhat und die so gar nicht zum „thronenden Christus“ passen. Vergleichen wir jedoch die Füße Jesu auf unserem Altarbild noch einmal mit denen auf dem Bild von Giovanni Battista Cima, dann erschließt sich der Sinn dieser Schuhe. Der Jesus auf Cimas Bild ist barfuß und er steht.

Der Jesus Christus auf unserem Bild macht aber macht offenkundig einen Schritt nach vorn. Er geht. Er ist dabei, eine Treppe hinunter zu gehen. Deuten wir zu viel in das Bild hinein, wenn wir sagen: Er kommt von seinem Thron herunter? Er kommt herunter zu uns, um den Glanz, der von Gott ausgeht, mit seinem Segen und mit dem Gotteszeugnis der Bibel mitten unter uns leuchten zu lassen?

Mitten unter uns aber kommt er auf steinige Wege, voll mit dem Schotter von Gottesvergessenheit und Menschenfeindschaft. Barfuß kommt er nicht weit auf solchen Wegen. Darum hat er Schuhe an, feste, derbe Wanderschuhe. Sein Gang aber hat trotzdem nichts Schweres. Der kleine, fast bloß angedeutete Schritt nach vorne verleiht der ganzen Gestalt offenkundig etwas Beschwingtes.

Wo Jesus Christus aber so beschwingt kommt, da besteht aller Grund zu der  Erwartung, dass in seinen Fußspuren der Boden für das Gedeihen von gutem Wein bereitet wird. Mehr noch, da besteht schon jetzt Grund zur Freude darüber, dass er gedeiht wie der Weinbogen, durch den Jesus Christus auf uns zukommt. Indem eine Gemeinde wie wir Sonntag für Sonntag diese gemalte Predigt vom Weinstock Jesus Christus und den Reben, die wir sind, vor Augen hat, wird sie eine frohe Gemeinde sein, eine Jubilate-Gemeinde eben. Amen.